»Vor dem Betreten des Aufzugs bitte feststellen, ob sich selbiger auf dem richtigen Stockwerk befindet«
Verifique se o mesmo von Nuno Ramos
rezensiert von Albert von Brunn.
In der brasilianischen Hauptstadt erging 2003 das regionale Gesetz (Lei distrital), wonach in allen Aufzügen des Landes obiger Hinweis anzubringen sei. Der Erlass löste allgemeines Unwohlsein, ja Entsetzen aus. Obwohl der Satz grammatikalisch falsch war und elementarer Logik widersprach, wurde das Gesetzesprojekt vom Parlament verabschiedet und gleich auf ganz Brasilien ausgedehnt. Diese juristische und stilistische Missgeburt inspiriert Nuno Ramos zu seinem neuesten Essayband vom Mai 2019, denn sie erschien ihm symptomatisch für die kafkaeske Situation in seinem Land, das er gerne mit einem Möbius-Band vergleicht.
Das Möbius-Band, benannt nach dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius (1790-1868) ist eine Fläche, die nur eine Kante und eine Seite hat, sie ist nicht orientierbar, man kann also nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und aussen unterscheiden. Ein Möbius-Band ist leicht herzustellen, indem man einen längeren Streifen Papier mit beiden Enden ringförmig zusammenklebt, ein Ende aber vor dem Zusammenkleben um 180° verdreht. Ein solches Möbius-Band entwarf die brasilianische Künstlerin Lygia Clark (1920-1988) in ihrem Werk Caminhando (1964). Bei Nuno Ramos wird dieses Möbius-Band zu einem Leitmotiv der brasilianischen Kultur – von Machado de Assis bis João Gilberto, von Gaetano Veloso bis Chico Buarque: »Tatsächlich habe ich vor einigen Jahren versucht, unter dem Titel No palácio de Moebius ein Buch zu diesem Titel zu schreiben, das ausgehend von diesem Prinzip eine große Zahl von Autoren erfassen sollte. Nach zahllosen Versuchen kam ich zum Schluss, dass diese Aufgabe meine Fähigkeiten überstieg. Die vier Essays, die ich aus dem Schiffbruch dieses Projekts rettete, sollen eine Ahnung von der Reichhaltigkeit dieses Themas vermitteln (…) Eigentlich wollte ich aufzeigen, wie aus einem narzisstischen Mechanismus eine Quelle der Energie entstehen könnte, die eine Krise überwinden und in eine grenzenlose Freiheit münden sollte« (S. 28). Der große Befreiungsschlag scheint jedoch misslungen, der Ansatz allerdings vielversprechend, denn gleichzeitig startet Nuno Ramos vom 24. Mai bis 6. Juli 2019 in der Galerie Kogan Amaro in Zürich eine Ausstellung zum Thema Sol a Pino (Blazing Sun), in der auch das Möbius-Band eine Rolle spielt.
Der zweite Teil umfasst eine Reihe Essays über verschiedenste Themen, zumeist in Zeitungsartikeln erschienen, darunter zwei zur politischen Tagesaktualität: Gente frouxa (S. 245-246) und Suspeito (S. 241-244), die mit der pessimistischen Formel enden: »Ich fürchte, wir sind erledigt«. Die Struktur des Essaybandes selbst erinnert an eine Art Moebius-Band, ein Zeichen der Orientierungslosigkeit, wobei dem selbstreflektierenden Intellektuellen nur noch die Rolle des Losers (S. 285-296) übrigbleibt in einem Brasilien, das «eine ungeheure Vergangenheit vor sich hat» (Millôr Fernandes).
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Nuno Ramos
Verifique se o mesmo,
Uma visão original e poderosa sobre a cultura brasileira.
Editora Todavia, São Paulo 2019
Albert von Brunn (Zürich, 25.06.2019)