Das Buch der Unmöglichkeiten

25 Feb 2019

Vorm Kaufhaus steht einer mit Schnurrbart und Namensschild, der früher mal aufsässig war, Träume hatte: Rock 'n Roll und die Revolution – soweit das unter der bieder-katholisch-brutalen Militärdiktatur denkbar war. Der Cousin vom Land hatte damals gestaunt über São Paulo: die bunten Lichter, die Libertinage, die Großstadt. War es das, was er wollte? Wer wusste schon, was er wollte?

In einem Hotelzimmer mit Blick auf die schäbige Straße versucht einer, einen Brief an ein Mädchen von früher zu schreiben. Er tastet sich voran, kreist zögerlich ein, was am Ende kein Brief wird, sondern ein Bericht über viele, die rauswollten aus den Verhältnissen, aus der Stadt, und im zweiten Schritt erst in die Welt, die Zukunft. Was wohl aus ihnen geworden ist? Am weitesten brachte es der, der am Ende in einer Hafenstadt eine Kneipe betreibt, kurzsichtig inzwischen, rachitisch. Brasilien hat er nie verlasson, obwohl ihn die Freunde überall in der Ferne vermuteten: Der hat's geschafft, hoffte man, weil dies insgeheim hieß, dass man es auch schaffen könnte.

Wie soll das gehen mit der Überwindung der Verhältnisse, wenn man nicht einmal genau weiß, was überhaupt die Verhältnisse sind? Der Eskapismus der einen ist das Led-Zeppelin-Konzert, das im Kino läuft, für den anderen ist es der Singkreis der Kirchengruppe, der von den spießigen anderen (dem System) in der Kleinstadt ebenso argwöhnisch beäugt wird.

Misstrauisch sind die Leut' gegen alles, was anders ist als der vorgezeichnete Weg aus der Armut, der über die Ausbildung im Berufsbildungswerk, eine Festanstellung in der Fabrik irgendwan zu einer netten Familie führt, die sich mit dem Lohn kaum ernähren lässt – auch so ein Traum. Nelly, ist eine von denen, die argwöhnisch von der Seite her angesehen wird, denn sie ist schon in den Sechzigern abgehauen, hat irgendann auch den Ehemann weggejagt, sich selbst aus der Unmündigkeit rausgeschafft und lebt nun in einem bescheidenen, nach Hundekack muffenden Häuschen irgendwo in – wo sonst – São Paulo.

Vielleicht ist sie glücklich. Würde sie nachdenken, vielleicht auch nicht.
Aber sie denkt nicht nach.

Und da sind Zezé und Dinim, deren kleine Fluchten seit Kindertagen parallel erzählt werden, die stolpern und taumeln, davonlaufen und schließlich im Knast wieder aufeinandertreffen. Es geht einfach nicht!

In nur drei Kapiteln und vielen Nebenfiguren entwirft Luiz Ruffato einen Katalog des alltäglichen Scheiterns. Dahinter ein Itinerarium dessen, was hätte sein könnten. Natürlich wie immer in dieser »Vorläufigen Hölle« vor dem Hintergrund des nur allzu realen aber irgendwie schon emblematischen Orts Cataguases im Hinterland von Minas Gerais, unweit und doch sehr weit entfernt von Rio de Janeiro.

In diesem vierten und vorletzten Band der historischen Saga der »kleinen« Leute Brasiliens geht es vor allem darum, davonzukommen. Makropolitisch raste die Welt auf die Katastrophe zu, Brasilien steckte bis zum Hals in der Krise, die schließlich zum Ende der Militärdiktatur führen wird. Ruffato erzählt auch davon, aber ganz nah an den Leuten und aus den Hinterhöfen der großen Ereignisse.

Gerade rast Brasilien wieder mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Katastrophe zu. Und anders als damals, lässt sich am Horizont wenig erkennen. Armut und Gewalt nehmen so schnell zu, dass man dabei fast zusehen kann. Als »Das Buch der Unmöglichkeiten« im Original vor zehn Jahren erschien, war es eine Art Retrospektive auf die Verhältnisse vor der Demokratisierung. Heute ist es auf seine Weise prophetisch. Dezent und fast ganz ohne die großen Töne. Aber wie immer stark unter die Haut gehend. [mk]

Luiz Ruffato:
Das Buch der Unmöglichkeiten. O livro das impossibilidades.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler, Assoziation A, 2019