Fluchtpunkte einer verlorenen Generation

14 Feb 2020

»Pontos de fuga« von Milton Hatoum
Eine Rezension von Albert von Brunn

»São Paulo: ich spazierte durch Vila Madalena und Pinheiros, ging die Avenida Rebouças entlang bis zur Paulista. Am Conjunto Nacional machte ich Halt, um mir die Auslagen in der Livraria Cultura anzusehen. Keine Nachricht von Jorge Alegre, Jairo oder Celeste. Es gab keine Livraria Encontro mehr. Ich schlenderte die ganze Avenida Paulista entlang bis zu den Kirchen des Paraíso-Viertels, die mein Vater besucht hatte, überquerte den Viadukt über der Avenida 23 de Maio, wollte einen Blick auf meine alte Adresse in der Rua Tutóia werfen, ging dann aber zum Colégio Marista zurück« (1).

Martim, ein junger Architekturstudent aus São Paulo, schreibt aus dem Pariser Exil in seinem Tagebuch: seine Eltern haben sich getrennt, als er sechzehn Jahre alt war – ein Trauma, das er nie überwinden wird. Der Kontakt mit der Mutter geht nach und nach verloren, er zieht mit seinem Vater nach Brasília, wo er von 1968 bis 1972 an der neugegründeten Universität studiert. Nach einer Polizeirazzia in seiner Studentenwohnung muss er Hals über Kopf nach São Paulo fliehen, wo er zunächst im Colégio Marista unterkommt, bevor er in eine Studentenrepublik einzieht, die Casa da Fidalga, eine Art Mikrokosmos der brasilianischen Gesellschaft unter der Bleikappe der Militärdiktatur (1964-1984). Martim ist kein militantes Mitglied der Studentenbewegung, er ist zu sehr mit dem Verlust der Mutter beschäftigt, die angeblich auf einem Landgut im Staat São Paulo lebt, jedoch für ihren Sohn unauffindbar bleibt (2): »Pontos de Fuga erzählt die Geschichte des Übergangs von der Jugend zur Reife und nicht nur bei Martim. Das Leben überschreitet eine Schattenlinie, und vieles bleibt zurück: die Naivität, die Illusionen und einige Ambitionen«, so Milton Hatoum in einem Interview (3).

Diese Éducation sentimentale findet nicht im luftleeren Raum statt. Auf Schritt und Tritt werden die jungen Architekturstudenten mit der Gewalt der Repression konfrontiert: ihre Professoren werden abgesetzt, Kommilitonen gefoltert oder ermordet, ein Trauergottesdienst zu Ehren von Alexandre Vannucchi Leme (1950-1973) endet in einem Tumult aus Tränengas, Pferdegewieher und Schlagstöcken (4). Die unvermeidliche Frage: Was ging schief? mündet in der Studentenrepublik in eine große Debatte um Brasília, die neue Hauptstadt des Landes:  Sergio San, Sohn japanischer Einwanderer und begeisterter Student an der Fakultät für Architektur und Städteplanung (FAU) verteidigt das Projekt durch dick und dünn: »Im Jahre 1957 konnten Lúcio Costa und Oscar Niemeyer doch den Militärputsch nicht voraussehen (…). Brasília ist unsere letzte Utopie vor der militärischen Ausgangssperre« (5). Sein Kontrahent, Osvaldo Xavier, Sohn von Kaffeepflanzern aus dem Hinterland und Spiritus rector der Studentenrepublik, gibt zurück: »Schaut Euch das Beispiel von Brasília an: Die Rationalität wird zur obersten Maxime erhoben, zum Wahnsinn der geometrischen Ordnung, umgeben von ein paar dekorativen Gebäuden – ein absurder Mix aus cartesianischem Rationalismus und geschwungenen Kurven, die an unsere tropische Natur und an die Barockarchitektur erinnern« (6). Dabei greift Ox, wie er von seinen Mitbewohnern genannt wird, die Theorien eines deutschen Philosophen auf – Max Bense (1910-1990).

In den Jahren 1961 bis 1964 unternahm Max Bense vier Reisen nach Brasilien, die ihn – gefördert vom brasilianischen Außenministerium – nach Rio de Janeiro und Brasília führten, damals noch eine Baustelle (7). In der neuen Hauptstadt erkannte Max Bense eine »unüberhörbare Proklamation cartesianischer Intelligenz (…) Organischen Formen entfremdet, umgeben von Satellitenstädten (…) [ist] Diese Stadt ein visuelles Ereignis wie ein Plakat« (8). Fasziniert vom Gesamtkunstwerk Brasília sieht der deutsche Philosoph in der brasilianischen Hauptstadt eine Manifestation cartesianischen Geistes im Gegensatz zu den organischen Formen der alten Metropole Rio de Janeiro und schließt mit den Worten: »Verschwendung ist eine tropische Kategorie« (9).

»Pontos de fuga« beginnt mit einem Zitat von Wallace Stevens aus seinem epischen Gedicht Der Mann mit der blauen Gitarre (10): »Der Traum, den jene Truppe träumte, / beschmutzt im schlammigen Montagslicht«. Dieses Gedicht übersetzt Martim für die Studentenzeitschrift Tribo, deren Mitarbeiter verhaftet werden. Die blaue Gitarre – eine Erinnerung an Picassos Bild The Old Guitarist (1904) – geistert wie ein Versatzstück durch den ganzen Roman und wird Martim ins Exil nach Paris begleiten. Pontos de fuga endet mit dem Amnestiegesetz vom 28. August 1979, das es den Emigranten erlaubt, nach Brasilien zurückzukehren. Die Truppe löst sich auf, einige kehren zurück, Martim bleibt.

Als Gertrude Stein in den Zwanziger Jahren ihren alten Ford Model T  in Paris in die Garage brachte und der betrunkene Mechaniker das Auto nicht schnell genug reparieren konnte, rief der Garagenbesitzer wütend: »Ihr seid alle eine verlorene Generation« (11). Diese Anekdote aus den Zwanziger Jahren gab einer Generation von Schriftstellern einen Namen und eine Identität. Bei Milton Hatoum ist es die verlorene Generation der Siebziger Jahre mit ihren Hoffnungen, Illusionen und Ambitionen, die eine Art Totentanz vollführt, den ewigen Dithyrambus Brasiliens aus Gewalt, Leiden, Hoffnung und Betrug (12).

Albert von Brunn (Zürich)
14.02.2020


Milton Hatoum:
Pontos de Fuga. O lugar mais sombrio 2.
312 páginas, Companhia das Letras, 2019

Der erste Teil der Trilogie »O lugar mais sombrio« erschien 2017 unter dem Titel »A noite da espera« (im Februar 2018 rezensiert von Albert von Brunn).

(1) Hatoum, Milton. Pontos de fuga. São Paulo: Companhia das Letras, 2019, S. 31.

(2) Pimentel, Davi Andrade. »O diário de luto de Martim: uma leitura de A noite da Espera, de Milton Hatoum« in: Letras/Santa Maria 57 (2018), SS. 63-80.

3) Marcelo, Carlos. »Ao lançar ‘Ponto de fuga’, o escritor Milton Hatoum faz uma alerta« in: Correio Braziliense 26.10.2019 www.correiobraziliense.com (17.12.19)

(4) Hatoum, Milton. Pontos de fuga. São Paulo: Companhia das Letras, 2019, S. 48.

(5) Ibidem, S. 192.

(6) Ibidem, S. 68.

(7) Nobre, Ana Luiza. »O Brasil sob o olhar de Max Bense« in: Max Bense. Inteligência brasileira: uma reflexão cartesiana. Trad. Tercio Redondo. São Paulo: Cosac & Naify, 2009, SS. 97-104.

(8) Bense, Max. Brasilianische Intelligenz: eine cartesianische Reflexion. Wiesbaden: Limes, 1965, SS. 12-13,18, 25.

(9) Ibidem, S. 76.

(10) Stevens, Wallace. »Der Mann mit der blauen Gitarre« in: Hellwach, am Rande des Schlafs: Gedichte. Aus dem Amerikanischen von Hans Magnus Enzensberger. München: Carl Hanser Verlag, 2011, SS. 148-149.

(11) Hemingway, Ernest. A Moveable Feast. London: Arrow Books, 2010, S. 61.

(12) Hatoum, Milton. Pontos de fuga. São Paulo: Companhia das Letras, 2019, S. 309.