Freiheit und Mond – Jacinto Lucas Pires

25 Apr 2025

Eine menschliche Statue. Die Frau mit Baskenmütze und roten Augen, die tagtäglich, egal ob es regnet oder die Sonne scheint, vor dem Künstlereingang des portugiesischen Parlaments steht und wartet – auf was genau? Wann immer ich ihr begegne, tauschen wir Blicke aus, aber ich verstehe nicht, was hinter diesen rot unterlaufenen Augen ist. Üblicherweise bewegt sie sich nicht, starrt auf die Tür, flüstert etwas, das ich nicht verstehe. Gegenrede, eine Art Klage, eine im Entstehen begriffene Utopie? Oder betet sie zu den Göttern der Staatsreligion? Ja, etwas an dieser Frau mit Barett erinnert mich an das Antike Griechenland: alte Statuen, eine Priesterin der Mysterien, Märtyrerin der Demokratie. Wie sie da steht, allein, und dem Parlament zuflüstert, ist es, als bräuchte die Demokratie eine Ansage. Ich weiß nicht. Nein. Die Frau ist die Frau und sie wartet. Zwischen Verzweiflung und Hoffnung setzt sie riskant auf das Schweigen. Tatsächlich?

Heute ist der 25. April, Tag der portugiesischen Revolution, die [vor 51 Jahren] mehr als vier Jahrzehnte Diktatur beendete und ein demokratisches Regime installierte, und ich muss an einen Aufsatz von Natalia Ginzburg denken, den ich vor einer Weile gelesen haben. In den frühen 1970er-Jahren schrieb die italienische Schriftstellerin – die im Widerstand war und deren Ehemann Leone Ginzburg von Mussolinis totalitärem Regime verhaftet und ermordet wurde – über Freiheit. Darüber, wie sehr dieses einfache, riesige Wort sich verändert hat. Es fühle sich an, schreibt sie, als sei es der Begriff, der sich zu Lebzeiten ihrer Generation am meisten gewandelt habe. Dann unterbricht sie sich selbst im Gedankenfluss: Nein, auch das Wort »Mond« habe sich ebenso stark verändert. Seit ein Mensch dort oben gewesen und mit den Füßen seinen Boden betreten habe, sei auch dieser Begriff ein anderer.

Es ist eine der größten Herausforderungen für uns heute, denke ich. Für uns alle – ob wir in der Demokratie geboren wurden und aufwuchsen, oder mithalfen, sie von Anfang an zu gestalten –, ist Freiheit der Boden.  Das unbestreitbare, unanfechtbare Minimum an gemeinsamer Grundlage, auf der wir uns als Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinschaft (Stadt, Land, Europa) bewegen. Unbestreitbar, unanfechtbar und deswegen schnell übersehen. Wenn in einer gleichzeitig stetig wachsenden wie plötzlichen Mode (dank Technologie, Social Networking und Abwesenheit von Regeln im virtuellen Raum) rechtsextreme Bewegungen die für das Untergraben von Demokratie und Rechtsstaat nötige Unterstützung erhalten, sollten alle Demokratinnen und Demokraten sich für einen Moment auf diesen gemeinsamen Boden der Demokratie besinnen.

Die tektonischen Platten der Geschichte bewegen sich. Der Grund stellt sich als brüchig heraus. Also müssen wir gut darauf acht geben. Aufmerksam und einfallsreich müssen wir Wege finden, den Wert jeder einzelnen demokratischen Errungenschaft herauszustellen. Und dabei nie vergessen, dass eine davon auch das Pflegen von Hoffnung ist. Wir müssen das einfache, riesige Wort »Freiheit« zu unserer Flagge erheben. Wenn die auf der Seite der Xenophobie, der Intoleranz und der Gier die Zeiten zurückdrehen in die Epochen der Finsternis, müssen wir uns dazu bringen, wieder einmal – mit unseren ewig jungen Herzen – an die Kraft der Freiheit zu glauben und dafür zu kämpfen. Sie als einen Leuchtturm betrachten, an dem sich jeder unserer Schritte orientiert, und sie als ein gemeinsames Gut bewahren. Denn wahre Freiheit für jede und jeden von uns ist nur möglich, wenn es wahre Freiheit für alle ist.

Vor ein paar Tagen kam mir auf der Rua Nova da Piedade in Lissabon eine Person mit einem breiten Lächeln entgegen. Nicht möglich! Aber doch. Es war sie. Wir grüßten uns und gingen aneinander vorbei weiter. Vielleicht war es nur mein Eindruck in diesem Moment, aber ich hätte schwören können, die Stadt sei für eine Sekunde stiller geworden. Und das sicher zu recht: Es was sie, die Demokratie, die mir da auf der Straße begegnet war.

*
Jacinto Lucas Pires ist portugiesischer Schriftsteller und Theaterautor. 2023 war er für einen Monat Stipendiat der portugiesischen Botschaft in Berlin, wo sein nächster (in Kürze erscheinender) Roman teilweise spielt.

https://jacintolucaspires.substack.com

*

Übersetzung (aus dem Englischen): Michael Kegler