J.P. Cuenca und »Hassrede«

24 Jun 2020

»Die Brasilianer werden erst frei sein, wenn der letzte Bolsonaro an den Gedärmen des letzten Pastors der Universalkirche [des Königreichs Gottes] erhängt wurde«

João Paulo Cuenca, bis dahin Kolumnist der Deutschen Welle und Autor mehrerer auch ins Deutsche übersetzter Romane, schrieb diesen Satz auf Twitter als Paraphrase eines bekannten Zitats des französischen Aufklärers Jean Meslier, der in seinem 1773 veröffentlichten »Testament« fordert: »dass alle Großen der Erde und alle Adligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten«. Ein Spiel mit literarischer Radikalität und natürlich der echten Empörung des Autors über die Verquickung des brasilianischen Präsidenten nicht nur mit dem organisierten Verbrechen, sondern insbesondere mit dem Komplex evangelikaler »Freikirchen«. Archaisch-radikale Splatter-Rhetorik gegen den nüchtern-eiskalten Erschießungsdiskurs des Genannten.

Erwartungsgemäß brach ein Sturm der Entrüstung los, erwartungsgemäß aus der Ecke der Bolsonaro-Anhängerschaft. J.P. Cuenca ist einer der wenigen Intellektuellen Brasiliens, die sich schon lange sehr offen politisch positionieren – bei den Protesten 2013, gegen das abgekartete Impeachment der Präsidentin 2016, gegen die Interimsregierung Temer, gegen den Kandidaten und nun Präsidenten Bolsonaro. Es ist nicht das erste Mal, dass seine Tweets und Äußerungen in den sozialen Medien einem rechten Shitstorm ausgesetzt sind. »Die erste Morddrohung gegen mich?«, schreibt Cuenca in einer seiner letzten Kolumnen für die Deutsche Welle: »2007, als ich über Tropa de Elite schrieb«. Die Drohungen damals kamen auch schon aus dem Dunstkreis des Bolsonaro-Clans. Mit vielen anderen Schriftsteller:innen stand er 2018 selbstverständlich auch auf der berüchtigten Boykott-Liste der Bolsonaro-Anhängerschaft.

Bis dahin ein relativ normaler Vorgang. Dann aber kündigte die Deutsche Welle am 18. Juni die Zusammenarbeit mit Cuenca. Er habe auf seinem privaten Profil Nachrichten verbreitet, die den Werten der Deutschen Welle entgegenstünden. Hassrede und Anstachelung zu Gewalt werden in dem dreizeiligen Kündigungsschreiben angeführt - sowie Presse- und Redefreiheit. Der Zusammenhang zu dem Tweet vom 16. Juni, der mittlerweile nicht mehr zu finden ist, ist klar, und es geht nicht um die Hassrede und Morddrohungen, denen der Autor des Tweets ausgesetzt war.

Der Vorgang erinnert an das »Umweltsau«-Video im WDR Ende 2019. Auch hier sorgte ein inszenierter digitaler Mob, von dem mittlerweile bekannt ist, dass es sich um eine konzertierte Aktion aus dem rechtsextremen Milieu handelte, dafür, dass zunächst die genannte Satire aus den Mediatheken gelöscht wurde und sich anschließend auch noch der Intendant des Senders für den inhaltlich harmlosen Beitrag entschuldigte. Die brasilianische Journalistin Fátima Lacerda erinnert zudem an Christoph Schlingensiefs »Tötet Helmut Kohl« Ende der 1990er und das Schmähgedicht von Jan Böhmermann, die jeweils zu politischen Verwicklungen führten, mittlerweile aber zum Kunstkanon der Republik gehören.

In Literaturkreisen wird der Verdacht geäußert, dass (wie »Diáro do Centro do Mundo« mutmaßt) auf Druck der digitalen Milizen [Bolsonaros] der Kopf des Schriftstellers auf einem Silbertablett überreicht wird. Ein bizarrer Vorgang, zumal die Deutsche Welle als öffentlich-rechtliche Anstalt andernorts durchaus Standhaftigkeit gegenüber undemokratische Regimes beweist und gern als Stimme der Vernunft und der Verteidigung der Menschenrechte wahrgenommen wird.

João Paulo Cuenca erwägt nun, Klage zu erheben gegen die Unterstellung, er würde Hassrede verbreiten. »Hassrede ist ein Verbrechen, jemandem ein Verbrechen zu unterstellen ist ebenfalls ein Verbrechen«, schreibt Cuenca auf Facebook.

Zahlreiche Persönlichkeiten aus der Literaturszene in Brasilien und Deutschland haben sich mittlerweile mit Cuenca solidarisiert. Vonseiten der Deutschen Welle ist bislang in der Sache nichts weiter zu hören.

»Alles ist gut«, lautet der Titel einer der letzten Kolumnen, die J.P. Cuenca auf DW.com veröffentlichen konnte und die erstmals auch (in einer bearbeiteten Fassung) auf Deutsch im Tagesspiegel erschien. In dem Text erinnert Cuenca auch an eine Episode von 2009, als er als Einziger öffentlich Unbehagen darüber äußerte, dass ein deutscher Sportartikelhersteller in Brasilien zu einer Feier in eine Villa voller Nazi-Devotionalien einlud. Cuenca schreibt weiter: »Heute, mehr als zehn Jahre nach diesen ersten Kontakten mit dem offenen brasilianischen Faschismus kann ich keinen großen Unterschied sehen zwischen jenen, die zum Schutz ihrer Komfortzone, ihrer Stipendien und Gehaltsschecks schweigen zu Unrecht, Vertreibung, Kriminalisierung, ständigen Massakern an Schwarzen und Indigenen; Politikern, die die historische Chance hatten, diese Probleme anzugehen und es nicht getan haben; Verlegern, die dazu beigetragen haben, den faschistischen Kandidaten zu normalisieren (…) und denjenigen die damals unter Hakenkreuzen ihre Gratisgetränke genossen.« In seiner letzten Kolumne vom 16. Juni schreibt Cuenca: »Wir sind so blind, dass wir Zensur erwarten, ohne zu sehen, dass wir längst schon zensiert werden.« Und meint damit die zahlreichen Kürzungen im Kultur- und Wissenschaftsbereich, die Abschaffung staatlicher Kulturinstitutionen in Brasilien.

Zensur ist auch ein hartes Wort – wie Hassrede oder Aufruf zu Gewalt. Wenn der Vorwurf der Hassrede einen trifft, der sich Hassrede (und -Politik) seit Jahren mit deutlichen Worten entgegenstellt, bleibt ein merkwürdiger Geschmack.

Michael Kegler, 24.06.2020

Periscópio. Kolumne von J.P. Cuenca auf DW-Brasil
https://www.dw.com/pt-br/coluna-perisc%C3%B3pio/t-51070667

Diário do Centro do Mundo
https://www.diariodocentrodomundo.com.br/censura-e-covardia-site-alemao-dw-entrega-cabeca-de-colunista-por-pressao-de-milicias-digitais-bolsonaristas/

Observatório da Imprensa
http://www.observatoriodaimprensa.com.br/liberdade-de-expressao/liberdade-de-imprensa/deutsche-welle-a-demissao-de-joao-paulo-cuenca-e-o-jornalismo-na-corda-bamba/

J.P. Cuenca im Tagesspiegel (übers.: Philipp Lichterbeck)
https://www.tagesspiegel.de/kultur/rassismus-faschismus-militarismus-ein-blick-in-die-finstere-seele-brasiliens/25888192.html

João Paulo Cuenca auf Deutsch:

Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall
Übers.: Michael Kegler, A1-Verlag 2012
Mastrioanni. Ein Tag
Übers.: Michael Kegler, A1-Verlag 2013