Opulenz: Ferien im brasilianischen Zauberberg

10 Jun 2021

»Die verrosteten Eisentüren quietschen in den Angeln wie rheumatische Alte, die bei jedem Schritt stöhnen mit ihren von der Arthritis entzündeten Fingern (…). Vor unseren Augen der Garten. Oder, was vom Garten geblieben war. Die Äste des Flammenbaums wiegten sich im Wind, und der Wind zögerte: ein Frühlingswind wie aus einem alten halb durchlöcherten Blasebalg, der sich aufblies und zusammensackte, stehen blieb und wieder einsetzte, um kurzatmig und asthmatisch innezuhalten, unfähig, Gestrüpp und Unkraut wegzublasen, das sich auf dem einst makellosen Rasenstück breitgemacht hatte, das so rein war wie ein Seidenteppich, auf den niemand einen Fuß setzen durfte, nicht einmal barfuß« (1).

Die Familie des Erzählers, soeben aus São Paulo eingetroffen, begutachtet ihr Feriendomizil in Campos do Jordão, der höchstgelegenen Stadt Brasiliens in der Serra da Mantiqueira. Es ist ein bedrohtes Idyll: Unkraut überwuchert den Garten, das Haus hätte dringend einen Anstrich nötig und in unmittelbarer Nachbarschaft wurde ein stilloser Kasten mit Namen SansSouci hochgezogen, den die Araukarien nur mit Mühe verdecken. Doch Ferien sind Ferien – Spaziergänge zum Horto Florestal, zum Alto da Boa Vista und all den übrigen Ausflugszielen, auf die man sich im Smog der Megalopolis São Paulo schon lange gefreut hat. Da platzt mitten ins Ferienglück die Einladung einer reichen Nachbarin, Marianne Nemirowska, deren Anwesen Sapucahy Cottage nach einem Bild von Jacob van Ruysdael gestaltet wurde. Eine frenetische Aktivität setzt ein: die ganze Familie muss standesgemäss ausstaffiert werden. Als alles fertig ist, setzt der Nebel ein und die steinreiche Dame bricht die Zelte ab, der Empfang findet nicht statt.

Campos do Jordão, heute eine beliebte Sommerfrische, wurde 1874 gegründet und entwickelte sich alsbald zum wichtigsten Tuberkulosekurort Brasiliens, vergleichbar mit Davos. Sanatorien entstanden in Vila Abernéssia und wie in den Schweizer Alpen entwickelte sich auch Campos do Jordão zu einem Punkt außerhalb der großen Städte, einem Modell, in dem sich gesellschaftliche Widersprüche, Dekadenz-Visionen und der Niedergang des Bürgertums trefflich in Szene setzen ließ (2). Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entdeckung des Streptomycins verschwanden die Sanatorien oder wurden zu Hotels und Ferienhäusern umgebaut. Die abgehobene Atmosphäre blieb jedoch erhalten und in diese surreale Bergwelt versetzt Luis Krausz die Personen seines Romans, die alle irgendwelchen Chimären hinterherjagen, bis die Immobilienspekulation ihren Illusionen ein Ende bereitet.

Die Realität holt die feine Gesellschaft von Campos do Jordão nur zu bald wieder ein: Susanna Frank, eine aus dem Danziger Bildungsbürgertum stammende Verwandte, hat sich ausgerechnet mit Paulo Maluf, dem Gouverneur von São Paulo eingelassen: »Indem unsere Tante Susanna diese Einladung annahm, hatte sie sozusagen die Seiten gewechselt, einen Fehltritt mit katastrophalen Folgen begangen« (3). Paulo Salim Maluf (*1931), Sohn libanesischer Einwanderer und erfolgreicher Unternehmer, gehörte zu den Profiteuren des Militärregimes (1964-1984). 1978 von General Ernesto Geisel zum Gouverneur von São Paulo ernannt, wurde er alsbald zum Lokalmatador der Regierungspartei Arena. In den drei Jahren als Gouverneur verteilte er 1095 Ipiranga-Orden, um Freunde zu belohnen und Feinde zu bekehren; Bankette und Gratis-Flugtickets ergänzten die Charmeoffensive des Emporkömmlings (4). Kein Wunder, dass Paulo Maluf bei der High Society von Campos do Jordão Nasenrümpfen, ja blankes Entsetzen auslöst. Seinen Schalmeien-Tönen zu erliegen, kann nur als Todsünde eingestuft werden.

»Im Jahre 1939 lag der deutsche Überseedampfer Windhuk in Kapstadt in Südafrika vor Anker, mit 250 Mann Besatzung und 400 Passagieren an Bord. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte die Rückreise, und so entschied der Kapitän eines Morgens die Anker mit einer falschen japanischen Flagge zu lichten. Der Treibstoff in den Tanks der Windhuk reichte bis Brasilien (…). Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland landeten Besatzung und Passagiere im Kriegsgefangenenlager von Guaratinguetá« (5). Nach 1945 findet sich die Besatzung der Windhuk im Grand Hotel von Campos do Jordão wieder:  »Der Willy von der Bar, der Willy vom Schönheitssalon, der maître Heinz mit seinen Kellnern, alle in Würde ergraut und nach deutscher Sitte erzogen, für die Arbeit Ehrensache ist« (6). Das Grand Hotel, ein Emblem des Westens und des Exils, ist ein falscher Ersatz für eine verlorene Heimat, wie das Hotel Occidental von Franz Kafka (7) . Alle Personen des Romans tragen Europa im Herzen, ein Europa, das von den Gräueln des Weltkriegs zerstört wurde. Es sind alles Vertriebene, die nie ganz in Brasilien angekommen sind. (8)

Die Romane von Luís Krausz zeichnen ein Bild der jüdischen Diaspora in Brasilien, im Besonderen der Auswanderer des 20. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus. Opulência, sein neuester Roman, schildert das Schicksal eines prekären Bildungsbürgertums, das sich in einen illusorischen Zauberberg flüchtet, um in der Serra da Mantiqueira den Idealen einer verlorenen Heimat nachzuleben, bis die brutale Wirklichkeit in Gestalt einer Abrissbirne allen Träumen ein Ende setzt.

Albert von Brunn (Zürich), 10.06.2021

Luis Krausz: 
Opulência.
Recife: Cepe, 2020. 282 S.

auf Deutsch erschienen von Luis Krausz bisher:

Verbannung. Erinnerungen in Trümmmern (Desterro). Übers. von Manfred von Conta, Hentrich & Hentrich 2013
Deserto. Zwischen den Welten (Deserto). Übers.:  Manfred von Conta. Sonderzahl 2017
Das Kreuz des Südens (Bazar Paraná). Übers.: Marlen Eckl. Hentrich & Hentrich, 2019
er ist außerdem Mitherausgeber des Werks
– Übergänge: Mitteleuropa im Werk jüdischer Autoren, Hentrich & Hentrich 2021

1 – Krausz, Luis. Opulência. Recife: Cepe, 2020, S. 11.
2 – Claires, Luiza. »Campos do Jordão: epidemia de tuberculose deu origem à cidade sanatório que hoje é destino turístico« in: Jornal da USP 11.3.2019 https://jornal.usp.br
3– Krausz, Luis. Opulência. Recife: Cepe, 2020, S. 168.
4– Rey, Romeo. »Maluf« in: Reportagen aus Brasilien: vom Wirtschaftswunder in die Krise. Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1986, SS. 45-49.
5 – Krausz, Luis. Opulência. Recife: Cepe, 2020, S. 197.
6 – ibd.
7 – Magris, Claudio. Weit von wo: verlorene Welt des Ostjudentums. Übers. von Jutta Prasse. Wien: Europaverlag, 1974, SS. 46-52.
8 – Leones, André de. »Opulência mostra como a obra de Luis Krausz mapeia a memória judaica« in: O Estado de São Paulo 29.3.2020, Especial H11.