Rückkehr nach Cataguases

08 Dez 2019

Luiz Ruffato: O verão tardio

rezensiert von Albert von Brunn

»Da ist die winzige Busstation von Cataguases, wie ich sie seit meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Leute umarmen sich auf den Bussteigen, Vögel singen in den Bäumen, das Fernsehen plärrt Nachrichten, der Geruch nach Dieselöl vermischt sich mit dem Sprühregen aus den Klimaanlagen«

Oséias Moretto Nunes, seines Zeichens Vertreter für landwirtschaftliche Produkte aus São Paulo, kommt nach fast zwanzig Jahren in seine Heimatstadt zurück. Er hat nicht mehr lange zu leben, will seine Familienmitglieder noch einmal sehen und Erinnerungen auffrischen. In den sechs Tagen, die ihm verbleiben, besucht er die Schwestern Isabela und Rosana, den Bruder João Lúcio und erinnert sich an Lígia, die mit fünfzehn Jahren durch Selbstmord aus dem Leben schied. Die Spurensuche verläuft im Sand. Nur ungern erinnern sich die Geschwister, die seit Jahren kaum miteinander sprechen, an die Vergangenheit, die Oséias auf Schritt und Tritt begegnet: einer der Klassenkameraden blickt ihm als Präfekt von Cataguases von einem Plakat entgegen, ein zweiter führt eine Imbissbude und ein dritter arbeitet bei der Müllabfuhr.

Cataguases, heute eine Kleinstadt mit rund 74.000 Einwohnern im Südosten des Staates Minas Gerais, war einst ein wichtiges Zentrum der Textilindustrie. Auf dem Höhepunkt der brasilianischen Avantgarde entstand hier eine kurzlebige Zeitschrift, Revista Verde, die eine ganze Generation von Schriftstellern bekannt machen sollte (1). Oscar Niemeyer (1907-2012), der Architekt von Brasília, hinterließ in Cataguases seine Spuren ebenso wie der Filmpionier Humberto Mauro (1897-1983). Nach drei Jahrzehnten des Booms versank die Stadt während der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1984) in der Bedeutungslosigkeit; eine Umweltkatastrophe verseuchte 2003 den Fluss Pomba und bedrohte sogar die Wasserversorgung von Rio de Janeiro. Im Roman erinnert sich nur der alte Kunstlehrer Mendonça an die glorreiche Vergangenheit: »ein verrücktes Volk – sie organisierten Filmfestivals, Musikwochen, Lyrik – tolle Zeiten, Ausschweifungen, Haschisch, freie Liebe, Sechziger Jahre« (2).

Oséias scheitert bei dem Versuch, mit Hilfe seiner überlebenden Geschwister die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Die Familie hat aufgehört zu existieren, es bleibt nur der Friedhof: »Da ist das bombastische Familiengrab aus schwarzem Marmor der Familie Moretto, das João Lúcio hat errichten lassen, um darin unsere Geschichte unterzubringen« (3)

»Cataguases: in deinen Straßen spielt die Sorglosigkeit der Städte/ die niemals waren, die nicht sein wollten. / Du weisst nicht, ich weiss nicht, niemand wird jemals verstehen, was du willst, was du bist. / Du gehörst nicht der Zukunft, nicht der Vergangenheit, du hast kein Alter/ Ich weiss nur: du bist die typischste aller Städte von Minas Gerais« schreibt 1927 der Dichter Ascânio Lopes (1906-1929) (4). Bei Luiz Ruffato ist von dem alten Glanz nichts mehr zu spüren: Cataguases ist zum Sinnbild eines Brasilien geworden, das nur eine ungeheure Vergangenheit vor sich hat (Millôr Fernandes).  

Albert von Brunn, Zürich (07.12.2019)  

Luiz Ruffato
O verão tardio.
São Paulo: Companhia das Letras, 2019


(1) Ruffato, Luiz. »Por que Cuataguases?« in: Os Ases de Cataguases: uma história dos primórdios do Modernismo. Cataguases: Instituto Francisca de Souza Peixoto, 2002, SS. 13-21.I

(2) Ruffato, Luiz. O verão tardio. São Paulo: Companhia das Letras, 2019, S. 129.

(3) Ibidem, S. 205.

(4) Lopes, Ascânio, »Cataguases« in: Luiz Ruffato. Ascânio Lopes: todos os possíveis caminhos. Cataguases: Instituto Francisca de Souza Peixoto, 2005, SS. 46-49.