São Paulo: Imitation und Vergessen

21 Sep 2018

Luis Krausz: O livro da imitação e do esquecimento.
Rezensiert von Albert von Brunn 

»Ich weiß, dass ich so viele Dinge verloren habe, dass nicht in der Lage wäre, sie alle aufzuzählen und dass ich jetzt weiß, dass diese Verluste alles sind, was mir geblieben ist«, schreibt Jorge Luis Borges in Los Conjurados (1). »Es gibt keine anderen Paradiese als die verlorenen Paradiese«. Manfred Braunfels aus Konstanz, seines Zeichens Professor für die Geschichte der Antike an der Universität São Paulo, sitzt in seiner kleinen Wohnung in der Rua Manduri in São Paulo und rätselt über den Sinn seines Lebens als Lehrstuhlinhaber in einer heißen, chaotischen Megalopolis weit entfernt von den Zentren des Wissens. Seine Midlife-Crisis versucht er durch ein ambitiöses wissenschaftliches Vorhaben zu überwinden, eine Studie über das Leben der Sklaven unter der Römerherrschaft in Palästina. Die Karteikästen sind voller Zettelchen, aber die Arbeit kommt nicht vom Fleck. Seine Gedanken schweifen immer wieder ab, und er versucht sich geistig in den Orient zu versetzen, in die Welt des römisch-jüdischen Historikers Flavius Josephus (*37-†100?), dessen Werk De bello judaico eine seiner wichtigsten Quellen darstellt. Seine größte Sorge ist dabei, sein eigenes Werk könnte dem Vergessen anheimfallen und auf den Regalen der Bibliotheken ungelesen verstauben. Doch es gelingt ihm nicht, sich auf sein Magnum Opus zu konzentrieren: das Telefon klingelt, er hat vergessen, die Präsenzlisten seiner Studenten zu unterschreiben.

Manfred Braunfels’ grosses Vorbild ist ein jüdischer Gelehrter, der 1933 Deutschland verlassen musste und sich in Jerusalem niedergelassen hat, wo er unter schwierigsten Umständen sein bahnbrechendes Werk über die Bestattungsriten im byzantinischen Reich verfasst hat. Dieser Manfred Herbst, Dozent für alte Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem, ist eine literarische Figur aus dem Roman Shira des israelischen Nobelpreisträgers Samuel Josef Agnon (1888-1970) (2). Zentral in diesem Roman ist der Gegensatz zwischen zwei Städten, Byzanz und Jerusalem, wobei die oströmische Hauptstadt für blutige Rituale und politische Kämpfe steht, während Jerusalem die ersehnte und erträumte Civitas Dei verkörpert, ein Ideal, das der Konfrontation mit den kleinlichen Intrigen des Alltags nicht standhält (3). Auch Manfred Braunfels’ Weltbild wird von zwei Städten beherrscht – São Paulo, der brasilianischen Megastadt, die er nicht versteht, und dem idealisierten Jerusalem, wo er hofft, sein Werk über die Sklaven unter römischer Herrschaft vollenden zu können. Beide Gelehrte leben jedoch nicht ganz im luftleeren Raum: Manfred Herbst verliebt sich in Agnons Roman in die Krankenschwester seiner Ehefrau. Manfred Braunfels führt eine mönchische Existenz in seiner Wohnung und wird von den Intrigen einer Kollegin eingeholt, die schließlich unter mysteriösen Umständen zu Tode kommt – eine weitere Störung. Das Streben nach akademischem Ruhm und einem Sinn im Leben endet in einer Farce, der Reise nach Jerusalem: «Wie beim Sesseltanz ist es wichtig, dass die Musik weiterspielt und die Teilnehmer um die Stühle herumrennen. Wenn die Musik plötzlich aufhört, müssen sich alle hinsetzen. Doch ein Stuhl fehlt und einer fliegt raus. Das Ganze nennt sich Fortschritt der Wissenschaft» (4).

Luís Krausz (*1961) Schriftsteller aus São Paulo, entstammt einer Familie Wiener Juden, die 1925 Österreich verließen und nach Brasilien emigrierten. Sein Werdegang ist kosmopolitischer Natur, studierte er doch Klassische Philologie und Hebräisch an der Columbia University, der University of Pennsylvania und an der Universität Zürich. Vergleichbar mit Wim Wenders, der seine Lisbon Story, einen Film übers Filmemachen, an die Peripherie Europas verlegt hat, so ist Luis Krausz vierter Roman, Nachahmung und Vergessen eine Geschichte über das Schreiben in São Paulo, einer Megalopolis der Dritten Welt, die diesem kreativen Prozess wenig förderlich ist. Gleichzeitig ist es eine Reflexion über den Herbst in der Grossstadt und den Herbst des Lebens in ständigem Dialog mit dem posthumen Roman Shira von Samuel Josef Agnon.

Albert von Brunn (Zürich, 01.09.2018) 


(1) Borges, Jorge Luis. »Possesion de l’hier« in : Œuvres complètes. éd. Jean Pierre Bernès. Paris : Gallimard, 2010. Vol. II, S. 945.

(2) Agnon, S. Y. Shira. Transl. Zeva Shapiro. London: The Toby Press, 2013.

(3) Feldman, Ahuva. “Consciousness of time and mission in S. Y. Agnon’s ‘Shira’” in: Hebrew Studies 50(2009), SS. 339-381.

(4) Krausz, Luis S. O livro da imitação e do esquecimento. São Paulo: Benvirá, 2017, S.90.