hinter der Landschaft dieser Tage …

26 Nov 2023

arlindo barbeitos: auf einem floß aus wind und sehnsucht. übersetzt von Ilse Pollack

Eine Einladung, Arlindo Barbeitos zu lesen

Von Markus Sahr

eine Schwalbe töten
ist Sünde
sagt mein Volk

einen Menschen morden
ist Verbrechen
sagt dein Gesetz

jedoch

in jenem Jahr,
das sie das gnadenreiche nannten
konnte der Tod
weil so fett
sich nicht bücken

(S. 39)


nur um die
Ankunft des Zugs aus Malanje zu sehen
gab es Leute die kamen sogar 
aus
Calambunze
Mazozo  
Capolo
Uala
Quinga
Cunga
Guimbe
Quindambiri
und Uanga-Zanga

nur um die
Ankunft des Zugs aus Malanje zu sehen
gab es Leute die kamen sogar
von Tar

(S. 41)

Jahrelang war Arlindo Barbeitos nur ein Name aus dem Mund einer österreichischen Freundin. Ilse Pollack, zurückgezogen in der Steiermark lebende Übersetzerin aus dem Portugiesischen und Italienischen, »Lusitanistin aus Leidenschaft«, wie sie selbst sagt, und eine große Vermittlerin zwischen den Sprachen. Ihrer »Truhe« entsteigen immer neue Schätze, oftmals erst nach Jahren oder Jahrzehnten, wenn diese Nachdichterin endlich einen Verlag für ihre Übersetzungen gefunden, auch die letzten strittigen Fragen um die Rechte geklärt hat. So auch in diesem Fall, »Auf einem Floß aus Wind und Sehnsucht« (Löcker-Verlag. Wien, 2023).

Ilse Pollack, die als junge österreichische Lyrikerin einst in London bei Erich Fried untergekommen war (was niemand wissen darf …), die als Romanistikstudentin in Paris Pantomime bei Marcel Marceaux erlernt hat (was niemand wissen darf …), Ilse Pollack also wäre nicht Ilse Pollack, wenn sie ihrer Auswahl an Gedichten, die sie aus den vier zu Lebzeiten von Arlindo Barbeitos erschienenen Bänden zusammengestellt hat, nicht auch noch ein persönliches Vorwort und ein abschließendes Interview mitgeben würde. Denn sie will Zugang schaffen, zum Lesen einladen, zum Kennenlernen animieren, auf ihre Weise, durch persönliches Eintauchen, Erinnern an Freundschaften, hinführen ans Original.

matar uma andorinha
é pecado
diz o meu povo

assassinar um homem
é crime
diz a tua lei

no entanto

naquele ano que afirmavam de graça
a morte
de gorda
não se podia curvar

(S. 38)

Arlindo Barbeitos, von dem diese Zeilen sind, wurde 1940 in Catete (Angola) geboren. Sein erster schmaler Gedichtband »Angola Angolê Angolema«, aus dem hier zitiert wird, erschien 1976 im Verlag Sá da Costa in Lissabon und Luanda.



Gewiss sind auch diese Gedichte noch geprägt vom Krieg gegen den portugiesischen Kolonialherrn, wie Ilse Pollack in ihrem Vorwort »Requiem für Arlindo Barbeitos (1940-2021)« schreibt, doch wird darin nicht der bewaffnete Kampf der Befreiungsbewegung MPLA glorifiziert, der auch der Dichter angehört hat. Krieg bedeutet hier alltäglichen Widerstand, das Überleben in Extremsituationen, die Rückeroberung der persönlichen Würde und der Geschichte der Afrikaner.

Begegnet sind sich der Autor und seine spätere Übersetzerin erstmals 1979 auf der Frankfurter Buchmesse. Damals gab es einen eigenen Stand der Angolaner. Die Begegnung zwischen dem Dichter und der österreichischen Journalistin für das »Wiener Tagebuch« sollte nachwirken und sich in den 90er Jahren zu einer langjährigen Freundschaft entwickeln. Diese Freundschaft ist Hintergrund auch für Ilse Pollacks nachgetragene Liebe, nach dem Tod von Arlindo Barbeitos 2021 einen Verlag für eine deutsche Ausgabe seiner Gedichte zu suchen. Die Arbeit an der Übersetzung hatte lange zuvor begonnen.


Catete
oh warmes Land
mit Baobablippen
und Kukuruzbärten

wie viele Kinder
hast du nicht zermalmt
zwischen deinen feinen Baumwollfingern

Catete 
oh warmes Land 
mit Baobablippen
und Kukuruzbärten

(S.37)

Die einfache Schönheit von Barbeitos‘ Versen, das vermeintlich Schlichte seiner Sprache geht einher mit kühnen und doch aus dem Lebensalltag Angolas resultierenden Bildern und einem hoch komplizierten Lebenslauf. Das Nachwort in Form eines längeren Interviews, das Ilse Pollack mit Arlindo Barbeitos 1996 in Lissabon geführt hat, »Nördlich der Hoffnung, südlich des Traums«, verrät es.

In einem angolanischen Dorf als Sohn eines nach Angola emigrierten Nordportugiesen und einer angolanischen Mutter geboren, war bereits Luanda für ihn der erste Schock. Der Vater trennt sich bald von Arlindos Mutter und heiratet eine weiße Brasilianerin. Der Sohn erhält eine schwarze Amme, »sie hieß Isabel und hatte nur ein Bein, das zweite hatte ein Krokodil abgebissen« (Arlindo Barbeitos im Interview, S. 183). Die Mutter lernt er erst mit neun Jahren kennen. Da es in Catete fast keine Lehrer gab, kommt er nach Luanda und erlebt dort den Rassismus der Weißen, wird zum Gespött der Töchter seines Vermieters, weil er mit der schwarzen Dienerschaft, mit der er sich besser versteht, Kimbundu spricht.

»Irgendwann war der Hausherr schwer besoffen und fing an, mich zu beschimpfen und sagte, ich sei a pior merda do mundo, die größte Scheiße auf der Welt, ich sei ein Mulatte und ein Jude. Ich entgegnete ihm, dass ich ein Weißer bin, da begann er schallend zu lachen … das war sehr schlimm, ich habe das jahrelang nicht verkraftet.« (Barbeitos im Interview, S. 187).
Der junge Arlindo Barbeitos möchte dazugehören, auch als er vom Vater nach Portugal geschickt wird, um in Lissabon das Gymnasium zu beenden. Da ist er 17, und es ist der nächste Schock. Nur drei Jahre bleibt er in der »Metropole«, er hat Sehnsucht nach Catete, wird Mitglied der antikolonialistischen Bewegung der Casa dos Estudantes do Império und geht 1961 nach Paris. Er wird Kommunist. Mit seinem mittlerweile portugiesischen Pass allerdings lehnt man ihn dort in der Organisation, die Afrikanern aus den portugiesischen Kolonien weiterhilft, ab … Er sei kein Angolaner, sondern Portugiese … Für derartige Fälle hat er sich bereits in Lissabon mit dem Empfehlungsbrief eines Rabbis eingedeckt, auch wenn der geplante Übertritt zum jüdischen Glauben nur ein Vorwand war. Immerhin, eine jüdische Organisation in Paris hilft ihm weiter, algerische Juden verschaffen ihm Marken für eine jüdische Mensa. Erst als seine Landsleute ihm Arbeit in den Markthallen und eine neue Unterkunft verschaffen, gibt er seine »kaum begonnene jüdische Karriere« (S. 192) wieder auf. Bald darauf kommt er nach Deutschland (West), nach Frankfurt.

Hier lernt er mit einem Stipendium Deutsch, studiert Soziologie, später Ethnologie, beginnt Gedichte zu schreiben und wird doch wieder zu einem Außenseiter. Die Begegnung in Frankfurt mit Agostinho Neto veranlasst ihn, nach Angola zurückzukehren, in die von der MPLA befreiten Gebiete. Dort arbeitet er als Lehrer, wird aber auch als Teilnehmer am bewaffneten Kampf eingesetzt. Eine Krankheit, Tuberkulose, führt ihn zurück nach Deutschland, wo er seine Doktorarbeit über die Entstehung Angolas wiederaufnimmt. Er wird Historiker.

1975, nach der Unabhängigkeit des Landes von Portugal, fliegt er ein weiteres Mal nach Angola – von Lissabon „in einem riesigen Jumbo, nur ich und zwei weitere Passagiere“ – voller Hoffnung und ohne zu ahnen, dass der MPLA »auf ein ganz kleines Stück Land reduziert worden war« (S. 198). Viele konkurrieren um den Rest des Landes: »die Südafrikaner, die UNITA, die FNLA, die Söldner, die zairensische Armee, alle wollten sich ein Stück Angola holen«.

Aus dem Interview (von 1996):

Ilse Pollack: Dann kamen die Kubaner.

Arlindo Barbeitos: Ich fand das damals ganz gut, das war die Möglichkeit, dem MPLA zur Macht zu verhelfen, weil ich meinte, dass der MPLA trotz aller Gebrechen immer noch die beste Kraft war. Dazu stehe ich noch heute, obwohl ich jetzt wirklich nicht mehr viel vom MPLA halte. Aber von den anderen halte ich noch weniger.

In Luanda gründet er eine Art Freie Universität und beginnt, frei zugängliche Kurse einzurichten und Vorlesungen zu halten über afrikanische Geschichte und Anthropologie. Dabei entfernt er sich vom streng marxistischen Kurs der Regierung, wird zunehmend kritischer. Seine Kurse werden schließlich verboten. Er geht von Luanda in den Süden des Landes, nach Lubango, und wird dort Dozent für angolanische und afrikanische Geschichte. Auch dort aber wird er 1981 von der Universität ausgeschlossen …

Er flieht, wieder nach Luanda. Das Leben für ihn und seine Frau wird zunehmend gefährlich. Es kommt zu Übergriffen, auch zu Gewalt gegen seine Frau und Freunde. Als „subversives Element“ ist er lange Zeit arbeitslos. Seine Frau erkrankt schwer, doch gibt es in Luanda keine Möglichkeit, sie richtig zu behandeln. Da er den Präsidenten aus Schulzeiten persönlich kennt, erklärt er ihm mit Hilfe von Freunden seine Situation. Nach einigen Jahren wird er rehabilitiert und geht 1985 als Kulturattaché für drei Jahre nach Algerien …

Und wieder kehrt er zurück nach Angola, nach Luanda, gibt Kurse an der Universität, macht alles Mögliche. 1992 gibt es die ersten freien Wahlen, deren Ergebnis die UNITA nicht anerkennt. Es kommt zu einem Massaker. Der Bürgerkrieg beginnt erneut.
 
All dies spiegelt sich in den Gedichten, den vier Bänden, die Ilse Pollack in ihrer Auswahl vorstellt. Für jeden Band wählt sie eine eigene Gedichtzeile als Titel ihrer vier Kapitel.



WANN KOMMT DER TAG (aus: »Angola Angolê Angolema«)
VERZWEIFLUNG IST VERRAT (aus: »Nzoji«)
MEINE HEIMAT IST EINE WAISE (aus: »Fiapos de Sonho« – Traumfäden)
ACH ANGOLA (aus: »Na Leveza do Luar Crescente« – Leicht wie der zunehmende Mond)

Schon ein flüchtiger Blick auf die zweisprachige Ausgabe verdeutlicht, wie sehr sich die Liebe zum eigenen Land, Hoffnung auf Zukunft und Ernüchterung, Sehnsucht und Angst einander abwechseln und durchdringen.

Liebste
meine Liebste
Sehnsucht nach der Zukunft haben
heißt jetzt und später glauben
dass
die Verzweiflung Verrat ist
und
dass
die  leichte Kurve deiner Brust 
jetzt und später
Platz hat in meiner Hand

Liebste 
meine Liebste

(S.91)


Liebste
meine Liebste

in der Dämmerung 
deines Blicks
bricht
langsam sehr langsam
die Morgenröte
eines Tages an
der noch kommen wird

Liebste 
meine Liebste
schließ‘ die Augen nicht

(S.99)



kleine Hütten 
bergen
Geschichten von Geschichten der Geschichte 
die gemacht wird
und noch andere

kleine Hütten
bergen
Familien von Familien der Familie
die gemacht wird
und noch andere

Geschichten von Geschichten der Geschichte 
und noch andere 
Familien von Familien der Familie 
und noch andere
wickeln sich 
zu einem Knäuel
das
wächst wächst wächst 
in kleinen Hütten

(S.101)
alle aus »Nzoji«


Auch ein Konstruktionsprinzip wird sichtbar, das zur unmittelbaren Wirkung und Schlichtheit der Gedichte beiträgt: Anklänge an die Form des Rondeaus und die Wiederholung samt Variation.


das Gefolge von Menschen und Dingen
gleitet nachlässig
hinter die Tore der Erinnerung

pünktlich
zeigt die Uhr des Schmerzes
die Stunde an   
die
der Rost des Vergessenes   
noch nicht zerfraß

hinter die Tore der Erinnerung
gleitet nachlässig
das Gefolge von Menschen und Dingen

(S.123)


im Atmosphärenstaub einer Zeit

vollgestopft mit dem Honig der Versprechen 
und
gewiegt vom Schnurren der Tage
schliefen die Gläubigen des Chimärentempels ein 
und achteten nicht auf die Zeichen
als 
erblickten sie nicht versteckt hinter
den Gesichtern die uns zulächeln 
Gestalten von Wegelagerern und Entweihern

im Atmosphärenstaub einer Zeit

(S.127)

beide Gedichte aus: »Traumfäden«


Im letzten Kapitel der Sammlung aus dem Band „Na Leveza do Luar Crescente“, von Ilse Pollack mit „Ach Angola“ überschrieben, überwiegt die Vergangenheitsform. Hatte Arlindo Barbeitos in seinem Debut 1976 gedichtet

Ich möchte grüne Dinge schreiben   grüne
wie die Blätter dieses nassen Waldes 
grüne 
wie deine Augen
die nur die Sehnsucht sehen lässt

(S.19)


so heißt es 1998:

die Hoffnung wuchs grün 
grün
wie das junge Gras im Oktober

(S.157)

Und immer öfter geht der Blick zurück

zu jener Zeit
als die Tage  
sich 
verloren 
zwischen der Erde und dem
Himmel

endeten
die Gespräche erst
wenn die Wörter
weil verschlissen 
auf den Boden 
zu fallen begannen

(S. 147)

In der Bilanz erscheinen »verbrannte Palmen / schwarze Male eines Alptraums« (S.159), ist von »verdorrtem Gras« und »Skeletten« (S.163) die Rede. Immer häufiger das Wort »Alpträume«. Der wunderbar komponierte Band endet mit einem Gedicht, in dem das lyrische Ich quasi als ein Schatten zurückgeht:

hinter
der Landschaft dieser Tage 
ist eine andere  
in mir

unter 
diesem ruhigen Fluss
fließt ein anderer
in mir

hinter 
mir 
geht ein Schatten
in entgegengesetzter Richtung


Aus dem erhofften Land, der »Heimat«, wurde ein »Floß aus Wind und Sehnsucht«. Dies auch der Titel von Ilse Pollacks zweisprachiger Ausgabe der Gedichte, die ich nur bewandern kann und der möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.



buchcover Arlindo Barbeitos: Auf einem Floß aus Wind und Schatten
Arlindo Barbeitos

Auf einem Floß aus Wind und Sehnsucht. Gedichte.
Ausgewählt und aus dem angolanischen Portugiesisch übersetzt von Ilse Pollack.
Löcker-Verlag. Wien, 2023.

Markus Sahr ist Literaturübersetzer und Schriftsteller. Er lebt in Leipzig und hat unter anderem Isabela Figueiredo, Yvette Centeno und Herberto Helder übersetzt; zuletzt Teresa Balté: »Tragbare Horizonte« (Leipziger Literaturverlag, 2023). Als Autor veröffentlichte er zuletzt: Wallis. Die wirkliche Farbe, Leipziger Literaturverlag 2021.